sabato 21 dicembre 2013

SKDP/17/002-7. § 17. Arthur Schnitzler: “Um eine Stunde”

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Arthur Schnitzler
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Zeno.org meine Bibliothek e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/7. - Nostra numerazione del Brano: 17. Reader: Noonday / download  di “Um eine Stunde” (7).  Etext: Zeno.org/Schnitzler  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Um eine Stunde
Arthur Schnitzler
(1862-1931)

Er hielt ihre Hand in der seinen und betrachtete ihr blasses Gesicht, aus dem jede Spur des Lebens geschwunden schien. Da öffnete sie noch einmal die Augen. Er wußte, wenn sich diesmal die Lider senkten, so war es für immer. Ihre Brust hob sich schwer, und er wußte: dies ist der letzte Atemzug. Da ergriff ihn eine ungeheure Angst um sie, und er betete, ohne daß seine Lippen sich bewegten: »Laß sie mir, Unerbittlicher, laß sie mir! Laß sie mir noch einen Tag, noch eine Stunde, aber nimm sie mir nicht jetzt, nicht gleich!«

Da sah er mit einem Male den Engel des Todes im Fenster stehen, der hatte sein Flehen gehört und sprach zu ihm: »Was willst du von mir? Drei Jahre war sie dein Weib. Was kann diese letzte Stunde dir, dem Lebenden, und ihr, der Sterbenden, geben?«

»Alles!« rief der Jüngling aus. »Denn diese drei Jahre waren nichts. Niemals hab' ich ihr gesagt, wie ich sie liebe, und ich hab' ihr's nicht sagen können, weil ich selbst es nicht gewußt habe. Und nun soll sie dahingehen, ohne es jemals gehört zu haben. Darum fleh' ich zu dir: Eine Stunde gib mir noch, daß ich's ihr sagen kann, und ich will dir nicht fluchen, so grausam du bist!«

Da antwortete der Engel des Todes: »Ich selbst kann dir diese Stunde nicht schenken. Denn eine so große Fülle von Leben über die Erde verstreut ist, so abgemessen ist sie, und im Unendlichen gibt es kein Zuviel und kein Zuwenig. Was du von mir verlangst, kann ich nur von einem anderen Menschen für dich erbitten, dem eben noch eine Stunde des Lebens und nicht mehr beschieden ist.«

Da leuchteten die Augen des Jünglings in neuer Hoffnung, und er sprach: »Wenn das in deiner Macht steht, so mach dich schnell auf den Weg, die Zeit geht hin.«

Der Engel schüttelte das Haupt. »Fürchte nichts. Solange ich mit dir rede, rauscht die Zeit an dir vorbei, ohne Macht über dich zu haben. Komm, ich will dich unter meine Flügel nehmen, denn[313] du mußt bei mir sein, wenn meinen Bitten Kraft innewohnen soll; aber du wirst unsichtbar sein.«

Kaum hatte der Engel des Todes diese Worte ausgesprochen, so fühlte sich der Jüngling vom Boden emporgehoben und durch die dämmernde Morgenluft davongetragen. Und noch im selben Augenblick fand er sich in einem Wald und wandelte an der Seite des Engels durch eine hohe, dunkle Allee. Da begegnete ihnen ein Mann, noch nicht alt und nicht mehr jung, der in tiefes Sinnen versunken war und erst aufsah, als ihm der Engel mit seinen schwarzen Flügeln den Weg versperrte. Der Mann erschrak zuerst, faßte sich aber bald und fragte mit viel Würde: »Ich glaube, dich zu kennen, und sehe mit Befriedigung, daß du dem Bilde sehr ähnlich bist, das ich mir von dir gemacht habe. Aber warum suchst du mich schon so früh auf?«

»Ich weiß«, antwortete der Engel, »daß du dein ganzes Leben damit verbracht hast, über mich nachzudenken, dich auf mich vorzubereiten und mich mit Anstand zu empfangen. Ich weiß auch, daß du das Nichtsein für den einzig wünschenswerten Zustand hältst, welcher den Menschen gegönnt ist. Freue dich! In einer Stunde wirst du dein Ziel erreicht haben.«

Der Mann atmete auf.

»Aber es kostet dich nur ein Wort«, fuhr der Engel fort, »um sogleich in das, was du das Reich des Nichtseins nennst, eingehen zu können. Schenke mir diese Stunde, die dir nichts anderes sein kann als ein unwillkommener Aufschub, für ein anderes menschliches Wesen, dem sie ein ungeheures Glück bedeutet.«

»Das werde ich keineswegs tun«, erwiderte der Philosoph mit viel Freundlichkeit. »Gerade in dieser letzten Stunde meines Lebens kann es mir eher gelingen als in jeder anderen, das Rätsel der Welt endgültig zu lösen – eine Möglichkeit, auf die ich keineswegs verzichten möchte; und überdies finde ich, daß die Ewigkeit selbst für den erfreulichsten Zustand, der den Menschen gegönnt ist, eben lang genug sein mag. Ich wünsche also, daß du mich ruhig meinen Spaziergang fortsetzen läßt und gütigst nicht früher erscheinst, als das Schicksal oder Gott oder der Weltgeist – darüber werde ich ja bald Näheres erfahren – dir aufgetragen hat.« Damit wendete er sich ab, und der Todesengel flog mit dem Jüngling wieder von dannen.

Sogleich befanden sie sich in einem dumpfen, schwach erhellten Zimmer, am Fußende eines Bettes, darin ein elender und verfallener Mensch lag, der sich ächzend und stöhnend hin und her[314] wälzte. Er hatte wohl auch das Rauschen der Flügel gehört, denn plötzlich schlug er die Augen auf und starrte den Engel mit Entsetzen an.

»Da bin ich endlich«, sprach dieser mit milder Stimme. »Da bin ich, den du in so vielen schmerzensreichen Tagen und Nächten herbeigerufen hast. Ich kann dich gleich mit mir nehmen, wenn du mir die eine Stunde schenkst, die dir nach Gottes Ratschluß noch bevorstünde und die furchtbarer wäre als alle, die du bisher erduldet. Du wirst nach Atem ringen, kalter Schweiß wird aus allen deinen Poren brechen, du wirst reden und dich bewegen wollen; aber du wirst dich nicht mehr rühren und deinen jammernden Kindern und deiner verzweifelnden Frau kein Wort des Abschieds sagen können. Du weißt noch nicht, was Hoffnungslosigkeit ist, in dieser Stunde wirst du es wissen und wirst fühlen, daß sie die grauenhafteste von allen Qualen ist, die über dich verhängt worden.«

Der Kranke hatte sich im Bette aufgerichtet, schlug mit den Händen um sich, als wollte er die Erscheinung vertreiben, und schrie: »Geh, geh! Du kommst noch immer zur rechten Zeit! Wärst du vor einem Jahre gekommen, so hätte ich dir gedankt; jetzt hab' ich mich an meine Qualen längst gewöhnt und weiß doch, daß ich lebe. Ja, ich lebe, ich lebe! Auch hab' ich eben nach dem berühmtesten Arzt der Stadt geschickt, er wird gleich da sein, und wenn mich auch die hundert anderen nicht retten konnten, vielleicht wird der es tun. So geh doch, geh!«

Die Wärterin, die neben dem Kranken eingeschlafen war, fiel ihm in die Arme, zugleich stürzten seine Kinder aus dem Nebenzimmer herbei, und der Todesengel flog mit dem Jüngling von dannen.

Nun standen sie inmitten eines weiten Tales, darin die Morgennebel lagen, vor einer ärmlichen Hütte. Auf einer Bank davor saß ein blindes, uraltes Weib ganz allein. – »Wer ist denn da?« flüsterte sie mit ihren welken Lippen.

»Ich bin es, der Engel des Todes.«

Da zitterte die Greisin und fragte: »Muß ich denn schon sterben?«

Der Engel erwiderte: »Wie oft hast du geklagt, daß ich ganz an dich vergessen habe, in Armut und Elend bist du hundert Jahre alt geworden, deine Kinder hat man vor dir ins Grab gelegt, deine Enkel sind in alle Welt verstreut und kümmern sich nicht um dich, du bist einsam und blind. Nun bin ich endlich da – begrüßest du mich nicht mit Freude?«[315]

Und die Alte flüsterte wieder: »Muß ich wirklich schon fort? Muß ich wirklich schon fort?«

Der Engel antwortete: »Wohl wäre dir noch eine Stunde des Daseins bestimmt, aber was kann sie dir sein? Ich bitte dich, mir sie für Jemanden zu schenken, dem sie hunderttausendmal mehr wert ist als dir. Denn zu dir wird auch in dieser Stunde kein menschliches Wesen kommen, niemand wird deine Hand in der seinen halten, niemand dir die Augen zudrücken, und das Aufgehen der Sonne kannst du nicht sehen. Worauf willst du noch warten?«

Da kniete das Weib nieder und flehte: »Laß mir diese Stunde, wenn sie doch einmal mir gehört. So dunkel und einsam sie sein wird, dort, wohin sie mich morgen tragen werden, ist es noch einsamer und dunkler. Verlasse mich, Engel des Todes, komme nicht früher, als es sein muß.«

Und wieder nahm der Engel des Todes den Jüngling unter seine Flügel und flog mit ihm davon. Plötzlich befanden sie sich in einer kleinen Zelle. An einem hölzernen Tischchen, auf dem zwei Kerzen brannten, saß mit Fesseln an den Händen und Füßen ein bleicher Mann und starrte durch das vergitterte Fenster ins Leere. Er fuhr zusammen, als plötzlich der Engel zwischen ihm und dem Fenster stand. Er fuhr sich über die Stirn, suchte aufzustehen, und seine Ketten rasselten.

»Was willst du denn jetzt schon?« schrie er heiser.

»Ich will dich befreien«, sagte der Engel des Todes.

»Schon jetzt, schon jetzt? Ich habe das Glöcklein noch nicht läuten gehört; du kommst zu früh!«

»Du hast recht«, sagte der Engel, »denn es ist wahr, daß du in einer Stunde erst gerichtet werden sollst, weil du deine Mutter umgebracht hast. Aber wenn du mir diese letzte grauenvolle Stunde schenkst für einen anderen, der Besseres damit anfangen kann als du, so bin ich bereit, dich schon jetzt mit mir zu nehmen. Gleich wirst du hören, wie man im Hof den Galgen aufrichtet, bald wird das Gefängnistor knarren, um den Leuten Einlaß zu gewähren, die deiner Hinrichtung bewohnen wollen. Endlich wird sich die Tür deiner Zelle zum letztenmal öffnen, und draußen werden der Scharfrichter und seine Gesellen stehen, die dich die enge Treppe hinunterschleppen werden, bis zu dem Gerüst, auf dem du dein Leben in schimpflicher und martervoller Weise enden sollst.«

»Fort! Fort!« schrie der Verurteilte. »Wenn ich auch nur auf[316] das kleinste Stück von meinem Leben verzichten wollte, hätt' ich mir ja längst den Kopf hier an die Wand rennen können, und alles wär' vorbei gewesen. Aber ich will nicht! Ich will nicht! Nein! Ich will das Hämmern und Schlagen im Hofe hören und das Knarren des Tores, und ich will mit diesen Füßen über die schmale Treppe hinuntergehen zu dem Gerüst, will die Menschen sehen, die gekommen sind, will hören, wie sie flüstern, und den Himmel will ich noch einmal schauen, bevor ich dorthin muß, wo ich nicht mehr sehen und hören werde. Und ich weiß eine Geschichte von einem, der hat Vater und Mutter umgebracht, und noch unter dem Galgen, mit dem Strick um den Hals, haben sie ihn begnadigt. Und wenn sie mich in den tiefsten Kerker werfen auf Lebenszeit, bei Wasser und trockenem Brot, zu Ratten und Mäusen, und ich soll nie wieder die Sonne sehen, so würd' es mir recht sein, bin dann noch immer besser dran als ein toter Graf! Hebe dich weg, verruchtes Gespenst, hebe dich weg!«

Noch klang dem Jüngling das Fluchen des Verurteilten im Ohr, da fand er sich schon in einem schönen, stillen Gemach, das matt erhellt war von einer roten Ampel, die von der Decke herabhing und ihren Schein über ein Himmelbett verbreitete, in dem ein junges Paar sich innig umschlungen hielt. Aber nur das junge Weib sah die Erscheinung und lächelte.

»Bist du der Engel der Liebe?« fragte sie.

»Nein, ich bin der Engel des Todes und komme, dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Denn ich will dich von hinnen nehmen, während du in den Armen des Geliebten ruhst.«

»Mit ihm?«

»Nein – allein.«

»Das will ich nicht«, flüsterte das junge Weib.

»Und willst du's auch nicht, wenn ich dir sage, daß du doch in einer Stunde sterben müßtest?«

»In einer Stunde?«

»Ja, so ist es dir bestimmt. Aber dann wirst du allein sein und wirst deine Arme vergeblich nach dem Geliebten ausstrecken. Glaube nicht, daß du träumst; was ich dir sage, ist wahr, so jung du bist.«

Da schmiegte sie sich an den Geliebten und sagte: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!«

Der Geliebte lächelte und sagte: »Was hast du denn, mein armes Kind?«

Da sprach der Engel des Todes: »Du wirst mir diese Stunde gern schenken, wenn ich dir sage, daß ich sie für eine deiner[317] Schwestern auf Erden brauche, die ebenso innig geliebt wird als du und die dahingehen soll, ohne es zu wissen!«

»Nein, ich gebe dir diese Stunde nicht«, erwiderte das junge Weib; »denn ich habe mich wohl gesehnt, in den Armen des Geliebten zu sterben, solang du mir fern warst, aber da ich dich vor mir sehe, will ich auch diese Stunde noch leben, und wär' es auch allein – und ohne Liebe!«

Da trug der Engel den Jüngling in die Lüfte und sprach zu ihm: »Nun bring' ich dich wieder heim.«

Den Jüngling aber faßte eine namenlose Verzweiflung, er klammerte sich mit beiden Armen an den Engel und rief: »Verlaß mich nicht! So kann ich nicht zurück! Die Fülle des Lebens ist ungeheuer, und irgendwo in der Welt muß diese einzige Stunde zu finden sein, die ich haben will und um die ich dich nochmals anflehe.«

Da erwiderte der Engel: »Es ist so, wie du sagst. Aber nun gibt es nur noch einen einzigen auf der Welt, der sie dir geben kann, und wenn der es nicht tut, so wird dich das elender machen als alle Enttäuschungen, die du bisher erfahren. Denn der eine bist du selbst, und die eine Stunde mußt du mit deinem ganzen Leben bezahlen.«

»So nimm es hin!« rief der Jüngling freudig aus.

»Höre mich an«, sprach der Engel. »Denn ich sage dir noch mehr. Das Leben, das dir bevorsteht, wird Not, Krankheit und Einsamkeit sein. Bist du bereit, es hinzugeben, so gehst du nach Ablauf einer Stunde mit der, die du liebst, dahin.«

»Ich danke dir, du gütiger Engel!« rief der Jüngling aus. »Nun ist mein Flehen erhört.«

In demselben Augenblick saß er wieder an dem Bette der geliebten Frau, hielt ihre Hand in der seinen und wollte ihr sagen, wie unendlich er sie liebte. Da sah er, wie sich ihre Lider schlössen, ihre Brust sich senkte. Er wartete eines neuen Blickes, eines neuen Hauches – doch es war vergeblich. Sie atmete nicht mehr, sie schaute nicht mehr – es war zu Ende. Da stürzte er in Verzweiflung an ihrem Bette zusammen und schrie auf: »Engel des Todes, warum hast du mich betrogen?«

Und der Engel, der nun zu Häupten des Bettes stand, sprach: »Armes Menschenkind! Glaubst du denn, daß es dir vergönnt ist, durch alle deine Liebe und durch allen deinen Schmerz hindurch in die Tiefen deiner Seele zu schauen, wo deine wahren Wünsche wohnen? Noch einmal wirst du mich sehen, da werde ich dich fragen, ob ich dich heute betrogen habe oder du dich selbst.«

Quelle: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 313-318. Erstdruck: Neue Freie Presse, Wien, 24. Dezember 1899. Lizenz: Gemeinfrei.

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